Vom naturalistischen Spiel

Dem eurythmischen Anspruch besser gerecht werden:
ein Beispiel, wie elementare Eurythmie Kinder im Kindergartenalter in ihrer sensomotorischen Entwicklung und „Ich-Stärke“ altersgerecht fördern kann.

Wie hoch darf oder sollte unser Anspruch an die eurythmische Bewegungsqualität in der Kindergarten-Eurythmie sein? Selbst wenn diese anfangs (ca. 1919) noch als „primitive“ Eurythmie bezeichnet wurde, so war doch zugleich eine hohe Erwartung an eine frühkindliche Stärkung der „Ich-Kraft“ mit ihr verbunden. Dabei stellt sich mir in der Praxis manches Mal die Frage, ob ich bei den Kindern diese Stärkung umfassend erreichen konnte oder wo und wie ich sie womöglich noch steigern kann. Gebe ich mich nicht manchmal auch mit einem geringeren Anspruch zufrieden? Wenn die Kinder zum Beispiel dynamische Teile meines Eurythmie-Angebots weniger eurythmisch als vielmehr in ihrer natürlich-alltäglichenWeise bewegen? Zumindest beruhigt es mich dann, dass sie dies doch freudig tun. Und zum Ausgleich werden sie ja bei meinen ruhigeren Übungen eurythmisch gestärkt. Soll ich mich aber mit ihrer vordergründigen Freude und Mitmachlust zufriedengeben? Wie nachhaltig bleibe ich in meinem Bestreben, bei den kleinen Kindern „Verbesserungen“ im Hinblick auf eine eurythmische Bewegungsqualität zu erreichen? Oder überlasse ich sie ganz frei ihrem natürlichen Bewegungsdrang, der sie in die eigene Dynamik oder Schwere zieht? Explizites Lernen und konsequentes Üben ist altersmäßig doch erst in der Schule zu leisten. Deshalb halten wir uns ja im Kindergarten aus gutem Grund mit wortreichen Erklärungen, Korrekturen oder gar Kritik den Kindern gegenüber zurück. So kann es geschehen, dass wir der spontanen Dynamik der Kinder nachgeben und sie gewähren lassen – womöglich selbst dabei ins Pantomimisch-Naturalistische abgleiten. Kleine Kinder wollen jedoch sehr wohl gefordert werden, mit allen Sinnen wahrnehmen und sich tätig bewegen. Sie sind stolz und befriedigt, wenn sie dabei erleben können, dass sie eine neue Sinneserfahrung gemacht, eine neue Fähigkeit erworben haben. Auch wenn dies im frühkindlichen Alter kein bewusster Erkenntnisvorgang ist, können wir ihnen die innerliche Freude darüber deutlich anmerken. Sehr eindrücklich konnte ich dies erst kürzlich um die Osterzeit erleben. Der Schritt vom naturalistischen Spiel hin zu Eurythmie-Bewegungen war in seiner Ich-stärkenden Wirkung auf die Kinder ganz offensichtlich und gut zu studieren.

Das Spiel „Die Hasen und der Jäger“ von Hedwig Diestel

Wie schon oft zuvor, bewegte ich auch in diesem Jahr mit den Kindern am Ende meines diesjährigen Frühlingsprogramms das bei ihnen überaus beliebte Spiel „Die Hasen und der Jäger“. Dafür hatte ich es in etwas verkürzter Form übernommen, um ganz in meiner Rolle als „Hasenmutter“ bleiben zu können.

„Spielt im Gras,
ihr kleinen Hasen,
Hüpft hier munter auf dem Rasen,
wenn der Jäger kommt,
husch, husch,
dann versteckt euch schnell im Busch!“ (Stille!)
„Kommt aus eurem Busch heraus,
Kinder, lacht den Jäger aus!
Macht ihm eine lange Nas‘!
Ätsch, ätsch, ätsch!
Das war ein Spaß!“

Im ersten Teil geht es mir um ein möglichst lautloses, leichtfüßiges Hüpfen oder Hoppeln auf dem Vorderfuß – „auf weichen Hasenpfoten!“. Dazu benutze ich meine kleine Kalimba, deren Klang dies gut unterstützt. Schon dies ist eine erste Anforderung an die Kinder:

Wie schaffe ich es, so leise wie möglich zu hoppeln?

Es erfordert entsprechende Körperwahrnehmung, Körperspannung und Selbstbeherrschung, nicht einfach fröhlich lachend draufloszulaufen, sondern sich selbst in eine gewisse Leichtigkeit zu erheben, um auf dem Fußballen elastisch und lautlos zu hüpfen. Ist dies zunächst durch Lachen und Trappeln noch zu laut, frage ich die Kinder, ob sie denn dabei das leise Pling-plong der Kalimbatöne hören können.

– Hat man außerdem je ein Häschen so laut gehört? – Multisensorische Aufmerksamkeit ist da im Bewegungsablauf gefordert. Beim gleichzeitigen Erlauschen der weichen Töne steigert sich nun die Bemühung um leise Füße, und die Münder bleiben wie von selbst zu. Die Kinder verlieren sich nicht mehr bei der munteren Fortbewegung, sie bleiben anders präsent, und so gelingt ihnen die Bewegungsqualität in Überwindung der Körperschwere schließlich immer besser.

Der natürliche Drang der Kinder nach realem Sich-Verstecken

Bei dem Warnruf „dann versteckt euch schnell im Busch!“ folgten allerdings nicht alle Kinder meinem Beispiel, nämlich sich unmittelbar an dem Platz, wo sie gerade waren, in die Hocke zu ducken und sich mit ihren Armen im imaginären B-Busch zu verbergen. Vielmehr gab es in allen Gruppen ein paar Kinder, die den Impuls hatten, sich schnell ganz real ein geeignetes Versteck zu suchen – in den Ecken, unter Bänken oder Tisch, hinterm Vorhang oder auch Schutz suchend dicht bei mir. Dieser Impuls hatte stets einen enormen Nachahm-Effekt auf die anderen Kinder. Die Assoziation eines realistischen Versteckspiels war wohl zündender als mein Bewegungsvorbild. So verselbständigte sich dies in der Folge in allen Gruppen mehr oder weniger ausgeprägt. Es dauerte also oft eine ganzeWeile, bis alle Kinder „versteckt“ waren. Manchmal wechselten sogar ein paar noch einmal den Ort hin zu einem Freund oder Freundin. Dabei streckten sich manche bäuchlings längelang aus oder knieten ganz klein im „Päckchen“ am Boden, das Gesicht in die verschränkten Arme vergraben. Was war da zu tun? Wenn die „Hasen“ erst so lange hin und her laufen mussten und schließlich mit solchem Getöse zu Boden gingen, mit den Knien rumsten oder ihre langen „Hasenläufe“ in die Gegend streckten? Mein Appell „wenn der Jäger kommt, darf er doch nichts mehr von den Hasen sehen oder hören!“ schien bei den meisten Kindern weniger dringlich als die Notwendigkeit, ein „richtiges“ Versteck zu suchen. Das anschließend von mir intendierte, leichte von den Füßen Aufspringen bei dem Ruf: „Kommt aus eurem Busch heraus“ – mit dem Laut H von „heraus“ – wurde dann auch eher ein mühsames Aufrappeln der meisten Kinder aus den verschiedenen Versteckhaltungen. Ebenso wurde schließlich auch das „Kinder, lacht den Jäger aus!“ weniger mit den „lachenden“ Händen bewegt, sondern ging oftmals in ausgelassenes Lachen und lautes „Ätsch, ätsch, ätsch!“-Rufen über. Dies war nur schwer einzudämmen. Schließlich hatte ich den Impuls der Kinder mehr oder weniger akzeptiert und hatte ihr mehrheitlich naturalistisches Spiel als kindliches Mitgehen in dieser Geschichte hingenommen. Immerhin gab es einen sinnvollenWechsel von Ruhe und Bewegung – und die Kinder hatten Freude dabei. Auch wenn ich mit dem eurythmischen Gesamtergebnis der Übung nicht zufrieden war, so erfüllte sie doch zumindest den „Zweck“ eines heiteren Bewegens am Ende der Stunde.

Der Jäger als wichtige Rolle in dem Geschehen

In diesem Frühjahr hatte ich erstmalig die Zwischenstrophe wiederentdeckt, bei der der Jäger eine eigene Sprechrolle bekommt, und fügte diese nun in den Ablauf ein.

Hasenmutter:

„Spielt im Gras, ihr kleinen Hasen,
Hüpft hier munter auf dem Rasen,
wenn der Jäger kommt, husch, husch,
dann versteckt euch schnell im Busch!“

Jäger:

„Hier sind Blumen, hier sind Gräschen,
aber wo sind nur die Häschen?
Keins zu sehen, ach wie dumm!
Nun, dann kehr ich wieder um!“

Hasenmutter:

„Kommt aus eurem Busch heraus,
Kinder, lacht den Jäger aus!
Macht ihm eine lange Nas‘!
Ätsch, ätsch, ätsch!
Das war ein Spaß!“

Dadurch wurde der Jäger zur real agierenden Person und das bewegungslose Verharren im „Busch“ wurde zusätzlich spannend. Ich blieb also im „B“ still auf den Füßen hockend, während ich die Worte des Jägers sprach. Die Zeit des Verstecksuchens verkürzte sich jetzt bei den Kindern, denn nun sprach der Jäger ja und suchte hörbar nach den Hasen. Diese aber gingen zum Teil weiterhin zu laut zu Boden oder lagen allzu gut sichtbar in der Gegend herum.

Der Lohn des Übens mit den „Großen“

Nun wollte ich es aber wissen! Ob Kindergartenkinder nicht doch noch einen Schritt weitergebracht werden können? Da ich ab dem Frühjahr üblicherweise beginne, während der Eurythmie mit den Vorschulkindern ein paar anspruchsvollere Dinge im Beisein der Kleineren zu üben, wurde diese Geschichte nun zu ihrer Extra-Aufgabe. Die zwei bis drei ältesten, oder besser noch, die fähigsten der „Großen“ wählte ich aus, um nun die Geschichte im ersten Durchgang mit mir zusammen einmal am Platz zu bewegen. Auf die Weise konnten sie besser auf mich fokussiert bleiben und fielen nicht in alte Gewohnheiten. So bewegten wir die drei verschiedenen Bewegungsqualitäten: die lockeren Hüpfschritte auf dem Vorderfuß, das Zusammenziehen im „B“ in der Hocke und schließlich das geräuschlose Aufspringen im „H“ mit dem anschließenden eurythmischen „Lachen“, der „langen Nase“ und federleichten Freudensprüngen. Erst im zweiten Schritt bewegten wir dann alles durch den ganzen Raum. Meist gelang dies wunderbar, sodass ich schließlich die ultimative Steigerung ankündigen konnte: „Jetzt können die größeren Häschen das so gut, dass sie es einmal ganz alleine machen dürfen. Ich mache jetzt nicht mit – passt auf: Ich bin jetzt der Jäger!“ Diese explizite Ankündigung war deshalb wichtig, weil die Kinder dann deutlich eine eigene Rolle zugewiesen bekamen und nicht dem gewohnten Sog der Nachahmung und damit mir als Jäger folgten.

Die Realität des Lautes „B“ – der Mensch in seinem Haus

Nun hüpften sie also auf sich gestellt, ohne mich, in leicht gesteigerter Spannung fröhlich umher. Dann duckten sie sich mucksmäuschenstill in ihrem selbstgebildeten Schutzraum und verfolgten mit blitzenden Augen den dumm um sie herumtappenden „Jäger“, der zwar die B-Büsche, aber offenbar nicht sie selbst darinnen erblicken konnte! Das Ganze bekam dadurch eine wunderbare Realität, die jedoch qualitativ völlig anders war als vorher das naturalistische Verstecken. Auch für die zuschauenden jüngeren Kinder gewann die beliebte Geschichte nun zusätzlich Reiz. Das wiederholte Anschauen der Bewegungsabfolge aktivierte zudem ihre innere Mit-Bewegung. Nun durften die nächstgrößeren Kinder hinzukommen – die Großen hatten ihnen ja so gut gezeigt, wie es geht! Es war erstaunlich, wie viele Kinder es auf einmal schaffen wollten und auch tatsächlich schafften, die Körperspannung und das Gleichgewicht auf den Füßen in der Hocke freihändig zu halten und den Schutzraum mit den Armen zu bilden – auch wenn es für manche anfangs noch wackelig war und sie sich vielleicht mit einem Knie am Boden abstützen mussten. Wenn schließlich alle Kinder zum Schluss dazukommen durften, gab es zwar nach wie vor noch ein paar ganz Kleine, die weiterhin in ihrem „Versteck“ lagen oder knieten. Aber die meisten Kinder blieben nun tatsächlich in Balance auf ihren Füßen im „B“ verborgen hocken. Die Wirkung war nun völlig anders als vorher. Es war eine überraschende Qualitätssteigerung, die auch von den begleitenden Erzieherinnen erlebt wurde. Eine von ihnen sprach mich am Ende der Stunde sichtlich bewegt an, was das denn sei, was denn da geschehen war. Allmählich wurde mir klar, dass es tatsächlich ein Durchbruch für die Kinder war. Denn dieses Phänomen konnte ich in all meinen unterschiedlichen Gruppen in ähnlicher Weise beobachten. An der stillen Freude der Kinder konnte ich ablesen, dass sie in dem Moment die formende Lautkraft „B“ – „der Mensch in seinem Haus“ – als Realität erlebt hatten. Von der spannungslosen Passivität des sich Hinlegens unter einen imaginären Busch war es ihnen nun gelungen, diesen Schutzraum aktiv für sich selbst zu bilden und ihn bis in die Muskelspannung als solchen zu empfinden. Das gesunde Sich-Abgrenzen von der Umgebung wirkte sichtlich beruhigend und stärkend auf die Kinder. Als unmittelbare Folge davon konnte ich erstaunt wahrnehmen, dass sie von nun an nach dem Aufspringen wie von selbst leise klatschen, hüpfen und nur mit den Händen – und den Augen! – „lachen“ und Schabernack treiben konnten. Sie brachen nicht mehr in Gelächter aus und brauchten auch nicht mehr feixend „Ätsch, ätsch, ätsch!“ zu rufen. Die Kraftanstrengung der körperlichen Zusammenziehung mit der „B“-Bewegung wirkte ganz sichtlich diesen ausfließenden Tendenzen entgegen. Die Kinder konnten auf einmal besser „bei sich“ bleiben. Ihr tendenzielles „aus dem Häuschen-Geraten“ wandelte sich wie von selbst zu einer neuen Fähigkeit der Zurückhaltung, mit der sie nun aktiver und differenzierter in die luftigen Bewegungen gehen konnten, ohne dabei im Geringsten an Freude einzubüßen, im Gegenteil! Es war ein Zuwachs an innerer Haltekraft bei ihnen zu spüren.

Sichtbarer Gewinn an „Ich-Stärke“

Durch das nachhaltige Verdichten der eurythmischen Elemente waren die Kinder zu einer neuen Selbst-Wahrnehmung gekommen. Sie hatten dabei ihre Körpersinne geschult, neue motorische Fähigkeiten entwickelt und waren dadurch innerlich gestärkt worden.

  • Das Hüpfen der „Hasen“ verlangte Spannkraft von ihnen und zugleich Durchlässigkeit in den Füßen, physische Leichtigkeit durch entsprechende Körperspannung sowie innere Aufmerksamkeit durch das gleichzeitige Hinhören auf die Töne – sensomotorische Fähigkeiten. Das plötzliche Anhalten erforderte Präsenz und innere Haltekraft.
  • Der eurythmische Laut „B“, in der Hockposition verdichtet, forderte eine besondere Leistung des muskulär wirkenden Bewegungssinns in Zusammenarbeit mit der statischen Kraft des Gleichgewichtsinns. Das Erleben des selbst geschaffenen Schutzraums durch die Abgrenzung gegen dieWelt wirkte dabei beruhigend und stärkend.
  • Die Gegenüberstellung von „Hase“ und „Jäger“ verstärkte zusätzlich das „Ich“-Erleben der Kinder. Durch die neue Rollenverteilung waren sie autonom und konnten sich so als „Ich“ dem fremden „Du“ gegenüber fühlen und sich real davon abgrenzen.
  • Der eurythmische Hauchlaut „H“ intensivierte sich ebenfalls durch die zusammengeduckte Ausgangshaltung. Von da aus musste die Aufwärtsbewegung mit einer gewissen Kraftanstrengung – wie von einer inneren Feder geschnellt, in die weitende Auflösung – erfolgen. Dieser extreme Positionswechsel stellte ebenfalls Anforderungen an die motorischen Fähigkeiten, die Spannkraft und den Gleichgewichtssinn. Dies trug mit dazu bei, dass die Kinder anschließend ganz bei sich bleiben konnten. Hat doch auch diese kräftige Lautbewegung „H“ eine entspannende und damit beruhigendeWirkung.
  • Das eurythmische „Lachen“ in leichten Flatterbewegungen der Hände im Umkreis und leichte Freudensprünge wurden Ausdruck innerer Fröhlichkeit ohne dabei außer sich zu geraten. Im Bild der Hasen konnte die heute bereits bei kleinen Kindern oft spürbare Schwerkraft hier überwunden werden.

So waren schließlich physische Leichtigkeit, Abgrenzungskraft, verstärkte Ich-Wahrnehmung und Selbstbeherrschung das Ergebnis dieser harmlosen kleinen Geschichte. Für die Erzieherinnen und mich war dies ein überraschend eindrückliches Beispiel dafür, wie elementare Eurythmie tatsächlich für die Kinder in besondererWeise einen Zugewinn an sensomotorischer Entwicklung und „Ich-Stärke“ erbringen kann. Es hatte sich also gelohnt, sich nicht mit einem bloß äußerlichen Nachspielen der Inhalte von Seiten der Kinder zufriedenzugeben.

sdeimann
Author: sdeimann

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