„Herausforderung Erziehung – Was verlangt die beschleunigte Entwicklung unserer Gesellschaft mit ihren tiefgreifenden Veränderungen von Heranwachsenden und Pädagogen?“ Die Podiumsgespräche am 29. April 2019 in der LMU zum 100. Jubiläum der Waldorfschulen gab auf mehreren Ebenen ein überzeugendes Bild: inhaltlich, durch die große Kompetenz aller Beteiligten und durch den vollen Hörsaal. Vertiefende Gespräche im Anschluss und beim Ausklang im „Nachtcafé“ in der MS Utting bestätigten diesen Eindruck.
Der Moderator, SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach hätte die Überschrift für die Zeitung auf „Kann es Waldorf besser?“ kürzen lassen – mit diesem Statement leitete er die Diskussion ein – und gab im Verlauf durch seine Fragen den Anstoß für fundierte Einsichten. Es diskutierten: Prof. Dr. Rudolf Tippelt, LMU, Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung, Prof. Dr. Jost Schieren, Prof. für Schulpädagogik, Schwerpunkt Waldorfpädagogik, Dekan des Fachbereichs Bildungswissenschaft, Alanus Hochschule, Alfter, Dr. Valentin Wember, Waldorflehrer, Arbeit in der Lehrerbildung in Asien, Amerika, Afrika, Australien, Europa, Buchautor, Tübingen und Hannah Imhoff, Studentin, ehem. Waldorfschülerin und Stadtschülersprecherin in München.
„Waldorfpädagogik heißt Persönlichkeitsbildung und Urteilsbildung“, so Prof. Dr. Rudolf Tippelt, der die einzelnen Vorteile der Waldorfpädagogik in seinem Eröffnungsstatement hervorhob. Waldorfpädagogik liefere mit der Stärkung jedes einzelnen eine gute Basis, den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Darüber hinaus begrüßte er, dass sich die Waldorfpädagogik seit einigen Jahren der Forschung geöffnet habe. Waldorfpädagogik gelte inzwischen als „am besten erforschte Reformpädagogik“.
Darauf angesprochen, wie elitär diese Reformpädagogik sei, wies Prof. Dr. Jost Schieren auf die politische Wirklichkeit und die Stellung der Privatschulen in Deutschland hin. Ebenso verwies er auf Konzepte, wie das der interkulturellen Waldorfschulen zum Beispiel, die andere Formen der Finanzierung suchen. Die Waldorfschulen seien in Bewegung.
Hanna Imhoff, die immer wieder zu Rate gezogen wurde, wenn es um die Praxis in Waldorfschulen ging, war Waldorfschülerin und Stadtschülersprecherin für München, und studiert nun in Bayreuth. Durch ihre schulübergreifenden Tätigkeiten hatte sie auch Einblicke von außen – und erlebte ihre Schulzeit als „Luxus“. Dennoch vermisste sie die Möglichkeiten der Partizipation. Auch eine Waldorfschule sei „nur“ eine Schule, die sie als Schülerin in erster Linie zu Ende bringen wollte. Gute Bildung hinge von den Lehrern ab, dieses gelte schulübergreifend.
Kinder sollen sich gesehen und verstanden fühlen, damit sie ihre Potenziale optimal entfalten können. Dazu müssen die Lehrer die Natur des Menschen und seine Stellung in der Welt studieren, so Dr. Valentin Wember. Seine Kurzzusammenfassung „Optimale Potenzialentfaltung aus größtmöglicher Menschen- und Welterkenntnis“ bringt die Waldorfpädagogik auf den Punkt, seine Statements aus dem Schulalltag aus Sicht des Lehrers waren jedoch anschaulicher und kurzweiliger und zeugten von breiter Erfahrung.
Auf die Frage nach der Stellung der Anthroposophie stellten beide Waldorf-Pädagogen klar: Für Lehrer sei das Studium der Werke Steiners, die allgemeine Erkenntnistheorie und die Menschenkunde unerlässlich. Aber ob jemand Anthroposoph werde, sei seine individuelle Lebensentscheidung und stehe in der Freiheit jedes einzelnen. Es sei keine Voraussetzung, um an Waldorfschulen zu unterrichten.
Prof. Dr. Jost Schieren ergänzte, dass es darum ginge, den Theoriebestand von Waldorf neu fruchtbar zu machen und Steiner in neue Zusammenhänge zu setzen.
Dr. Valentin Wember wies auf die Anfänge der Waldorfschulen 1919 hin: Schon Steiner habe verhindern wollen, dass Schüler „passend“ für die Wirtschaft gemacht werden. Da die Schulbildung aber nach wie vor in staatlicher Hand liege, sei das Programm der Waldorfschulen auch immer ein Kompromiss. Es gehe vor allem darum, mit der Selbsterziehung des Menschen ernst zu machen. Als Kernsatz einer Pädagogik führt das zu einer radikalen Freiheit. Als visionärer „spiritueller Lehrer“ legte Steiner die Basis. Seine Ideen sind heute wissenschaftlich erwiesen oder werden in Zukunft bestätigt werden.
Die Vorzüge der Waldorfschulen – keine Selektion nach Leistung, theoretisch keine Hierarchie der Fächer, das Lernen mit allen Sinnen neben dem intellektuellen Erfassen sowie die Gemeinschaftsbildung rückten immer wieder in den Fokus der Diskussion. Dadurch geriet der Bezug zur Ausgangsfrage vielleicht manchmal in den Hintergrund – dennoch sorgten die fundiert vorbereitete Moderation, die fröhliche und direkte Art von Dr. Valentin Wember, die positive Grundhaltung von Prof. Tippelt, die zukunftsorientierte Art von Prof. Schieren und die praktisch herausfordernden Beiträge von Hanna Imhof für ein tiefes Bild der Waldorfpädagogik heute. Die Kompromisse, die im Rahmen der staatlichen Vorgaben eingegangen werden müssen fanden Raum, sowie die kritische Selbstbefragung. Rund 400 waldorfnahe Gäste und bei genauem Hinsehen erstaunlich viele interessierte „Neulinge“ erhielten jede Menge Denkanstöße, was Waldorfpädagogik heißt, und wohin sie sich entwickeln könnte oder sollte.
Text: Albertine Sprandel, Redaktion waldorf-bayern.de