Marianne Tschan ist bereits am Vortag aus der Schweiz angereist um den pünktlichen Beginn der Fortbildung für die südbayerischen Waldorfkindergärtnerinnen nicht zu gefährden. Schon ab acht Uhr morgens hilft sie mit die 70 Stühle in dem kleinen Saal für die angemeldeten Teilnehmerinnen zu stellen und den Tisch für ihre Unterlagen zu richten. Um halb neun Uhr kommt Frau Altenried dazu, um in bewährter Weise den Tagungsbeitrag der Kolleginnen entgegenzunehmen. Beim Koch der Schulmensa ist bereits der erste Kaffee mit kleinem Frühstück zu bekommen. Ein freundlich-fröhlicher Geräuschpegel legt sich über die Szenerie und untermalt die Wiedersehensfreude vieler Kolleginnen. Kurz vor Beginn der Veranstaltung wird zur großen Erleichterung von Frau Tschan auch noch der bestellte Beamer angeliefert und die richtige Einstellung ist flott hergestellt.
Mit einem kleinen Film werden wir zu den Kindern in das Schweizer Waldgelände des Waldkindergartens „tatatuck“ mitgenommen. Er hat eine Kindergruppe, Spielgruppe und Eltern-Kind-Gruppe. Über dem ganzen Unternehmen steht imaginär: „Kind sein dürfen, Spielen, Bauen und Gedeihen im intensiven Miterleben der Naturprozesse.“ Wir sehen fröhliche, versunkene, regennasse, staunende, mit den Elementen schwer arbeitende, tüfftelnde, spielende, singende, tanzende und einfach zuschauende Kinder. Immer ist eine tiefe Verbundenheit mit dem jahreszeitlichem Naturgeschehen in den Gesichtern abzulesen. Alle Sinne sind erkennbar angesprochen. Eindrücklich erinnere ich mich an eine Bilderstrecke, in der Kinder mit Herbstlaub werfen. Ein Mädchen, welches sehr zurückgezogen und introvertiert die anderen vom Rand aus beobachtet wird durch die Quirlichkeit der vielen Blätterbewegungen – und -gewirrs herausgelockt und ist plötzlich mitten drin dabei. Ein anderes Mädchen erlebt an einer Astgabel mit Blatt plötzlich das Abbild eines Schmetterlings und schlüpft bis in die Bewegungen in ihn hinein. Ein Bub wird mit seiner regennassen Montur ein Teil der tropfenden, glänzend, hell gleißenden Umgebung.
¨ „Was aber in der Natur aus dem Schoße des Toten sich erhebt, um zur Zukunft der Welt zu werden, das fasst der Mensch auf durch seinen ihm so unbestimmt
erscheinenden Willen, der sich bis in die Sinne hinein erstreckt. (….) Wenn ich in die Natur hinausgehe, so glänzt mir entgegen Licht und Farbe; indem ich das Licht und seine Farben aufnehme, vereinige ich mit mir das von der Natur, was sie in die Zukunft hinüber sendet, und indem ich dann in meine Stube zurückkehre und nachdenke über die Natur, Gesetze über sie ausspinne, da beschäftige ich mich mit dem, was in der Natur fortwährend stirbt. – In der Natur ist fortwährendes Sterben und Werden miteinander verbunden. (….)“
Rudolf Steiner; Allgemeine Menschenkunde GA 293
Wir bekommen eine Ahnung, was der Aufenthalt in der Natur mit den Kindern macht. Mit vollem Einsatz ins Äußere gehen, bauen, auch nach innen, wachsen lassen, ausgestalten, differenzieren, aufbauen, organgestalten.
Mit dem nächsten Film werden wir von dem Treffpunkt im Dorf auf die halbstündige Wanderung zu dem Zeltlager im Wald mitgenommen. Dort sehen wir noch konkreter wie vielfältig und abwechslungsreich die natürliche Umgebung das Tun anregt: Es gibt Spiel am Wasser, Feuer, Schminken mit Erde, Steine schleppen, Körbe mit Seile, Kletterwege, selbstgebaute Schaukeln, Stöcke, Blätter, Schnee, Fladen werden aus Matsch auf einer umgedrehten Metallschale gebacken, Singen und Rhythmus dazu mit Stöcke und Steine klopfen und trommeln, Waldpuppen aus Holzstückchen mit Kleidern aus Blättern, Blüten, und Moos, Mehl malen mit großen Steinen, Rübenlaternen zu St. Martin, Adventsgärtchen, Weihnachtsspiel, Drei-Königs-Spiel, Fasching … . Alles was wir in unseren Gruppenräumen machen ist draußen, wenn auch häufig mit anderen Mitteln, genauso möglich. Faszinierend ist es für mich, zu erkennen wie ideenreich, phantasievoll, kreativ und wandlungsfähig die Erzieherinnen aus ihrem Vorbild heraus dort wirken können. Marianne Tschan gibt uns den weisen Rat, dass man manches auch aushalten muss, oder genießen kann …?
Nach der kleinen Pause geht es weiter mit Fragen der Teilnehmerinnen. Es gibt lange Listen an der Tafel mit Stichworte wie Struktur, Übergänge, Regeln, Ablösung, Material, Vorschule, Integrationskinder, Unterkunft, Anzahl der Kinder und Sicherheitsvorschriften.
Marianne Tschan berichtet uns, dass sie drei Wochen lang diese Stelle im Wald gesucht hat. Das Land gehört drei verschiedenen Waldbesitzern. Es musste ein Vertrag geschlossen werde, dass sie bei Unfällen keinesfalls haftbar sind. Ein vierter Waldbesitzer wollte von dem Ganzen nichts wissen und hat zur Abgrenzung einen Zaun gebaut.
Für die Erzieherinnen spricht Marianne Tschan von einer „gesteigerten Aufmerksamkeit“ in der pädagogischen Haltung, weil es keine Mauern und Wände gibt.
Rudolf Steiner sagt dazu, für Aufmerksamkeitskräfte braucht man Denkmuskulatur. Fühlkräfte erstarken durch Konzentration und Wille. Um diese neuen Fähigkeiten zu entwickeln, empfiehlt sie eine Meditationsübung mit einem Naturgegenstand nach Georg Kühlewind:
Thema: Naturgegenstand (z.B. Stein)
1. Übung
¨ Schritt 1: Den Stein als Ganzes anschauen (mit globalem Blick ohne Begriffe)
¨ Schritt 2: Augen schließen und versuchen vorzustellen, was ich gesehen habe, ev. mit
ansprechender Frage: „Wie siehst du aus?“ oder „Komm, zeig dich.“
¨ Die Übung mehrmals wiederholen wobei die Zeit des Anschauens immer kürzer wird.
2. Übung
¨ Schritt 1: Den Stein betrachten mit einem analytischen Blick und so die Einzelheiten in Erfahrung bringen. Begleitet von der Empfindung: ein Strom der Aufmerksamkeit fließt von mir zu dir hin. (Dauer ca. eine Minute oder kürzer)
¨ Zwischenschritt: Augen kurz schließen/blinzeln
¨ Schritt 2. Den Stein mit einem sanften empfangenden, globalen Blick anschauen. Mit dem Gefühl begleitet, jetzt strömt etwas vom Stein zu mir hin und wir laden den Stein ein: „Komm erzähl mir deine wortlose Geschichte.“ (Dauer ca. 1-5 Min.), bis wir einen deutlichen Unterschied in den zwei „Blicken“ erleben.
Nach Möglichkeit die Erfahrungen des zweiten Blickens nicht in Worte fassen.
Die Teilnehmerinnen lassen sich auf die Übung ein und werden nachdenklich und in sich gekehrt.
Nachdem alle wieder in den kleinen Saal zurückgekehrt sind, geht Frau Tschan auf weitere Fragen ein, die sich mehr mit Gefühlen wie Lebensfreude, Glück, wie weit kann man gehen, was können die Kinder aushalten, wie sind die Erwartungen der Eltern und des Lehrplans, beschäftigen.
Sie stellt dazu das herkömmliche Konzept von Wald- und Naturkindergärten: „Wald/Natur=Bildungsinhalt“ gegenüber dem Konzept der Waldorf-Waldkindergärten: „Wald/Natur=Erlebnis- und Entwicklungsraum sowie Bildungsquelle“, als grundsätzlich unterschiedlichen Ansatz gegenüber. Im Waldorf-Waldkindergarten wird also nicht mit dem Erklären von physikalischen oder chemischen Gesetzmäßigkeiten an den Intellekt appeliert, sondern das Wissen wird „erspielt“ und damit zur tiefsten, inneren Erfahrung.
Kinder die spielerisch aus Naturmaterialien was gestalten oder bauen erleben sich als Schöpfer. Eine Bildungswissenschaftlerin begleitete das pädagogische Geschehen bei Marianne Tschan im Wald und stellte fest, dass die Kinder aus sich heraus aktiv werden und so Vertrauen zur Selbstwirksamkeit gewinnen. Eine Fähigkeit die man gemeinhin im Managementtraining schult.
Außerdem hat Marianne Tschan noch ganz viel praktische Hinweise für uns.
Bei ihr gibt es 3 Neins:
- Nichts kaputt machen
- Nicht andere verletzen
- Nicht sich selbst verletzen
Sie hat Lösungen für den Toilettengang im Freien gefunden, Wärmepads kommen bei kalten Füßen und Händen zum Einsatz, es gibt abschließbare Militärkisten aus Alu für Lebensmittel-vorräte, Trinkwasser wird in Kanistern zum Zeltlager gebracht, zur Brotzeit gibt es ein Buffet mit kaltem und warmen Essen, wie wird aus einem Grasbüschel und einem Stöckchen ein Pinsel, usw.
Natürlich sorgen zu den vielfältigen Beziehungen zur Pflanzen- und Naturwelt, dem Miterleben der Naturprozesse (Wetter, Tages- und Jahreszeiten), dem sinnlichen Erleben, auch das ganze Spektrum der Waldorfpädagogik wie Struktur und Verlässlichkeit, Rhythmus und Wiederholung, Zeitstruktur im Tages-, Wochen- und Jahreslauf mit seinen Festen, Vorbild und Nachahmung für ein gutes Kohärenzgefühl.
Koheränzgefühl:
„Es wird als eine globale Orientierung definiert, die das Maß ausdrückt, indem man ein durchdringendes, andauerndes aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die eigene interne und externe Umwelt vorhersehbar ist und dass es eine hohe
Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftiger-weise erwartet werden kann.“ (Antonovsky 1997)
¨ Das Kohärenzgefühl entwickelt sich aus den wiederholten Erfahrungen von
Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Bedeutsamkeit.
Dann weist sie uns noch auf den besonderen Unterschied zwischen einem Kind und einen Erwachsenen beim Lernen hin.
Kind: Implizites Lernen Nachahmend
1. Hand „tatnen“, Handhabbarkeit, Ergreifen
2. Herz tätig nachvollziehend, Nachahmend sich verbinden=verstehen
3. Kopf sinnig, bedeutsam, bildend, „begreifen“
Erwachsener: Explizites Lernen Erkennend
1. Kopf „vorstellen“, Sinnhaftigkeit, Bedeutsamkeit
2. Herz verstehend sich verbinden, Nachvollziehbarkeit
3. Hand Handhabbarkeit, Umsetzung
Wir danken Marianne Tschan sehr herzlich, dass sie uns an der Fülle ihres Wissens und den Erfahrungen der letzten 38 Jahre als Waldorferzieherin hat teilhaben lassen. Die wesentlichen Grundpfeiler unserer pädagogischen Arbeit im Waldorfkrippe und -kindergarten sind auf dieser Tagung wieder deutlich geworden. Und natürlich: „Die Verbindungmit der Natur – ist die primäre Zukunftsressource“! Aus meinen Aufzeichnungen der Tagung: Christine Weng