Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Nun haben wir das dritte Kindergartenjahr im Zeichen von Abstandsregelungen, Maskenpflicht, Testungen usw. – die Herausforderungen für das Gelingen gesunder Pädagogik bleiben nach wie vor bestehen. Dabei wurde uns von politischer Seite immer wieder versichert, dass dies vorübergehende Maßnahmen seien zum Schutz unserer Gesundheit. Doch es wird immer deutlicher, dass wir uns auf einen längeren Zeitraum einrichten müssen. Nach wie vor bleiben viele Fragen offen, ist die Unsicherheit darüber, was zu tun ist, groß.
J. Greiner, Waldorflehrer und Pianist, hat es in einem Vortrag so beschrieben: Es ist, als haben wir das sichere Festland verlassen und schwimmen nun in tiefem Wasser, wo es keinen Grund mehr unter den Füßen gibt.
Es entstehen Fragen wie: Welchen Weg finde ich für mich persönlich? Wie komme ich zu einem Urteil, wenn es so viele sich widersprechende Aussagen von verschiedenen Seiten gibt? Welchen Weg gehe ich mit meiner Familie, meinen Freunden? Wie finde ich einen Umgang mit der Krise im Rahmen meiner pädagogischen Arbeit, innerhalb der Einrichtung, in der ich tätig bin? Wie gehe ich um mit all den unterschiedlichen Befindlichkeiten, Ängsten und Nöten innerhalb meines Kollegiums, innerhalb der Elternschaft? Wie mit den rechtlichen Vorgaben? Wie mit meinen eigenen Ängsten, Nöten, Verunsicherungen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für mein pädagogisches Handeln? Und wie wirkt all das auf die uns anvertrauten Kindern, die in schicksalhafter Weise mit uns verbunden sind?
Nun haben wir das Glück, dass wir als Waldorfpädagog*innen immer auf die Wurzeln, die Grundlagen unserer Arbeit, nämlich die Menschenkunde Rudolf Steiners zurückgreifen können. Wir haben dort eine unerschöpfliche Kraftquelle, die uns in dieser Zeit stärken und dienen kann, wenn wir uns auf den Weg machen, sie für uns zu erschließen. Das kann auf vielfältige Weise geschehen. Ich möchte hier nur einige Möglichkeiten beschreiben.
Betrachten wir den Wochenspruch vom 18. – 24. August
So fühl ich erst mein Sein,
Das fern vom Welten-Dasein
In sich, sich selbst erlöschen
Und bauend nur auf eignem Grunde
In sich, sich selbst ertöten müßte.
Rudolf Steiner
Hier wird deutlich, dass wir Teil des „Welten-Daseins“ sind, es uns also letztlich nicht hilft, sich wie in ein Schneckenhaus zu verkriechen und abzuwarten. Mein eigenes Sein braucht die Verbindung zur Welt. Das wird uns ja auch deutlich, wenn wir auf die Sinnesentwicklung des Kindes schauen: Nur durch die Pflege durch den anderen Menschen können sich die Sinne entfalten und entwickeln, ansonsten verkümmern sie. Das Kind ist also darauf angewiesen, dass wir ihm Interesse entgegenbringen.
Damit kommen wir zu einer wesentlichen Aufgabe unseres Zeitalters der Bewusstseinsseele: Das Interesse für den anderen Menschen. „Ein wesentlicher Impuls in der Entwickelung der Menschheit im Zeitalter der Bewußtseinsseele muß das Wachsen des Interesses von Mensch zu Mensch … sein. Das Interesse, das der eine Mensch an dem andern nimmt, das muss immer größer und größer werden. Dieses Interesse muß wachsen für den Rest der Erdenentwickelung…“ (R. Steiner, Vortrag vom 26. 10. 1918).
Und weiter zur Frage, wie das gelingen kann: „Sehen Sie, alle Kunst hat etwas in sich – natürlich verästelt sich jeder Kulturzweig in der verschiedensten Weise, und der hat dann alle möglichen Nebenwirkungen –, aber alle Kunst hat etwas in sich, was geeignet ist, zu tieferer, konkreterer Menschenerkenntnis zu führen. Wer sich wirklich vertieft in die künstlerischen Formen, die zum Beispiel die Malerei, die Plastik schaffen, oder in das Wesen der inneren Bewegungen, die durch Musik und Dichtung pulsieren, wer sich da hinein vertieft, … wer Kunst wirklich innerlich erlebt, der durchdringt sich mit etwas, was ihn befähigt, den Menschen nach einer gewissen Richtung, nach der Richtung der menschlichen Bildnatur aufzufassen.
Denn das wird es sein, was in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele über die Menschheit kommen muß: den Menschen bildhaft auffassen zu können… Das geistige Urbild des Menschen müssen wir durchschauen lernen durch seine Bildnatur.“ Wir sind also aufgefordert, uns künstlerisch zu betätigen, unsere künstlerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Das wiederum hilft uns, neue Begegnungsmöglichkeiten zu entwickeln, unser Verhältnis von Nähe und Distanz zum anderen bewusst neu zu greifen. Dies gilt insbesondere im Verhältnis zum kleinen Kind: Wenn ich denn eine Maske tragen muss – sei es, weil ich in Sorge um mich selbst bin, sei es, weil es vorgeschrieben ist und ich kein Attest zur Maskenbefreiung habe – wie schaffe ich dennoch einen Begegnungsraum, in dem sich das Kind vertrauensvoll mit mir bewegen kann. Auch wenn ich persönlich der Auffassung bin, dass es für das kleine Kind unzumutbar ist, insbesondere in der Eingewöhnungszeit mit einem halb verhüllten Gesicht konfrontiert zu sein, gibt es vielleicht doch Wege, diese Hürde zu überwinden.
Auch die Beschäftigung mit den sog. „Übungen für die Tage der Woche“ kann uns eine Hilfe sein. R. Steiner weist darauf hin, dass wir auf „gewisse Seelenvorgänge Aufmerksamkeit und Sorgfalt verwenden“ sollen. Dies spüren wir gerade deutlich: Wie schnell werden Urteile, Meinungen gebildet, Andere ihrer Gedanken, Urteile wegen abgelehnt oder gar ausgeschlossen, wie oft handeln wir ohne Entschlusskraft, gedankenlos, hören wir nur halb zu, was uns jemand sagen möchte, sind wir nicht ganz bei der Sache, wie oft schätzen wir unsere Kräfte nicht richtig ein, überfordern uns und geraten in Stress oder bleiben passiv, obwohl wir handeln könnten, sind wir nicht in der Lage oder bereit, aus unseren Beobachtungen und Erfahrungen zu lernen – all dies erleben wir gerade in gesteigerter Intensität. Die Pflege der „Übungen für die Tage der Woche“ kann uns helfen, unseren Alltag mit mehr Ruhe, Besonnenheit und Gelassenheit zu gestalten – verbunden v.a. mit der Aufforderung, uns immer wieder, wenn auch nur wenige Minuten am Tag, Zeit zu nehmen, in uns hineinzuhorchen, zur Ruhe zu kommen.
Zuletzt möchte ich noch erinnern an die Kraft der Eurythmie und der Heileurythmie. Eurythmische Übungen – auch wenn wir nur wenige Übungen wenige Minuten täglich pflegen – dienen der Stärkung sowohl unserer seelischen als auch unserer physischen Gesundheit. Dies kann ich sowohl für mich allein als auch mit meinen Kolleg*innen einrichten. Das gilt natürlich genauso für die Kinder wie auch für die Eltern – vielleicht könnte man auch die Eltern gelegentlich daran erinnern.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen, den Herausforderungen dieser Zeit immer wieder mit frischem Mut und frischem Kräften auf’s Neue zu begegnen.
Sabine Meidinger