Die meisten Menschen wissen gar nicht, wie schön die Welt ist
R.M. Rilke
und wieviel Pracht in den kleinsten Dingen, in einer Blume,
einem Stein, einer Baumrinde oder einem Birkenblatt sich offenbart.
Eine Kindergartengruppe kann zu jeder Jahreszeit, ergänzend zu den meist kleinen Freispielflächen der Einrichtungen, wunderschöne Tage in Parkanlagen verbringen und viel erleben.
Plant man eine Kindergartengruppe, die wie Waldkindergärten ihren Aufenthaltsort nach Draußen verlegen möchte, braucht es Freiräume, die von den Kindern nicht nur belebt sondern auch verwandelt werden dürfen. In denen die Zustimmung zu ihrem Tun grundsätzlich vorausgesetzt werden kann und nicht ein „Nein“ oder „Vorsicht“ bei einer ganzen Reihe von Ideen der Kinder ausgesprochen werden müsste. Ein von den Kindern selbstbestimmtes Spiel muss sich in diesem Raum entwickeln können und was sie vorfinden möchten, soll vielfältig und mit allen Sinnen wahrnehmbar sein und zur Erkundung und Verwandlung einladen.
Aus innerem Antrieb heraus möchten Kinder ihrem individuellen Interesse folgen, auf schon Erlebtes und Erfahrenes aufbauen und Neues entdecken. Unzähliges finden die Kinder draußen vor, was ihre Neugierde auf sich zu ziehen vermag. Sie erforschen im Spiel die sich im Jahreslauf verändernde Umwelt, können physikalische Gesetzmäßigkeiten erkennen und natürliche Materialien und deren Beschaffenheit „begreifen“.
Zu mehreren oder alleine beschäftigen sich die Kinder mit ganz unterschiedlichen Dingen, einige bauen aus Stöckchen und Steinen ein Gehege für Feuerwanzen, andere graben Autobahnen, ICE-Strecken und Brücken in Kies und Erde. Aus Stämmen und Ästen werden Häuser und LKWs gebaut und Steine mühsam aus Erdhügeln gebuddelt und zu einem Dinosaurier-Skelett zusammengefügt.
Sie üben sich in Aufmerksamkeit, Ausdauer und im sozialen Miteinander. Sie lernen auf ihre eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und auch auf die Fähigkeiten der anderen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das stärkt ihre Kreativität, ihre Eigenmotivation und ihr Gemeinschaftsbewusstsein.
In Naturräumen finden Kinder vielfältige Anregungen ihrem Bewegungsdrang zu folgen und sich selber in Bezug zum Umfeld und zu anderen Kinder wahrzunehmen.
Sie rennen und springen, klettern auf und über Bäume, erklimmen Hügel bei Trockenheit im Sommer, bei Matsch nach Regen und bei eisigen Temperaturen im Winter. Sie bringen Material in Bewegung, indem sie wippen und schaukeln oder große Äste und Steine an andere Orte transportieren.
Draußen kann der benötigte Bewegungsraum je nach Bedürfnis eines Kindes oder einer Gruppe mal größer oder kleiner sein. Bei großem Raumbedarf eckt das Kind räumlich oder sozial nicht so leicht an und unter Bäumen und Büschen können ganz kleine Spielräume entstehen.
Die Kinder üben sich nicht nur in Körperbeherrschung und Gleichgewicht sondern erwerben Sozialkompetenzen, die sie befähigen etwas „in Bewegung zu bringen“.
Kälte, Wärme, Hitze, Trockenheit oder Dauerregen, Wolken die sich vor die Sonne schieben und alle klimatischen Zwischentöne werden im Laufe des Tages, einer Woche, einer Jahreszeit und eines Jahres sehr intensiv erlebt. Die Kinder erleben sich als Teil der Natur und lernen, auch mit widrigen Umständen und unabänderlichen Gegebenheiten selbstwirksam umzugehen.
Es wird gemeinsam gesungen, gespielt, gemalt, gearbeitet, gegessen, gefeiert und es werden Geschichten und Märchen erzählt oder ein Puppenspiel aufgeführt.
Das Kind findet sich in Kultur und Sprache ein, erlebt tätige Vorbilder, Erwachsene und Kinder, und soziale Prozesse, die es beobachten und dann nachahmend im Spiel erproben und verarbeiten kann.
Die Wald- und Wiesengruppe in Würzburg
Das Spiel der Kinder in den umliegenden Parkanlagen zu erleben, ihre Zufriedenheit mit dem umzugehen, was sie vorfinden und nicht viel zu brauchen, hat uns motiviert, eine Wald- und Wiesengruppe zu gründen. Erleichtert wurde dieser Schritt auch durch die Not fehlender Kindergartenplätzen im Waldorfkindergarten und der Kommune, die diese Idee gerne aufgegriffen, unterstützt und als Modell weiteren Trägern vorgestellt hat. So konnte im September 2017 der Betrieb der Wald- und Wiesengruppe mit einer altersgemischten Gruppe von 18 Kindern als vierte Kindergartengruppe des Waldorfkindergartens Würzburg aufgenommen werden.
Eine Wiese auf dem Schulgelände wurde der neu entstandenen Gruppe zur Verfügung gestellt und ein Bauwagen in Auftrag gegeben. Der Baumbestand aus Laub- und Nadelbäumen, eine Hecke rund um die Wiese und ein großer Sand-Erde-Platz bilden den Spielraum für die Kinder. In fußläufiger Entfernung können Tage in Parkanlagen oder einem kleinen Wald verbracht und Wanderungen in die Weinbergen oder zu einem nahe gelegenen Naturschutzgebiet unternommen werden.
Das Konzept der Wald- und Wiesengruppe basiert auf den Grundlagen der Waldorfkindergarten-Pädagogik und der tiefen Überzeugung, dass der Mensch das Menschsein nur vom Menschen lernt. Kinder brauchen Erwachsene als Vorbilder, die sich seelisch-geistig mit der Kinderseele verbinden und ihnen einen Raum gestalten, in dem sie sich körperlich, seelisch, geistig und sozial gesund entwickeln können.
Unser Raum ist ein Naturraum, Hülle gebend wirken der Himmel, die Erde, die umgebenden Bäume und Hecken und die den Kindern in liebevoller Aufmerksamkeit verbundenen Kindergärtnerinnen.
Unsere Aufgabe ist es, immer wieder neu zu schauen, was die Kinder brauchen, wie wir die pädagogischen Grundlagen Vorbild, Nachahmung, Rhythmus und Wiederholung leben und was das für die Arbeit Draußen bedeutet. Vor allem aber achten wir darauf, dass die Kinder genügend Zeit haben ihrem Impuls zu folgen und spielen.
Gartenbau und Verarbeitung von Obst und Gemüse, Backen im Holzofen auf dem Schulgelände, Handwerk und die Vorbereitung der Jahresfeste bestimmen an den Wiesentagen die gemeinsame Tätigkeit. Es wurden Hochbeete gebaut, Obstbäume gepflanzt und Arbeitsplätze so eingerichtet, dass die Kinder in die Erwachsenentätigkeit eintauchen und, wenn sie dem Impuls folgen möchten, zweckfrei mitarbeiten können.
Diese sinnstiftenden Tätigkeiten werden von den Kindern bis in ihr eigenes Tun erlebt und können im Spiel nachahmend immer wieder neu nachvollzogen werden.
An den Wandertagen bestimmt das Ziel und die sich im Jahreslauf verändernde Umgebung das Spiel der Kinder. An heißen Sommertagen ist ein Wäldchen oder ein bewaldetes Naturschutzgebiet mit sumpfigen Bächlein unser liebstes Ziel. Brauchen wir die Sonnenwärme, dann wandern wir gerne auf eine große Wiese in den nahen Parkanlagen und bei Dauerregen ist der Weg das Ziel.
So verbringen wir die Tage bis zum Mittagessen immer Draußen. Der Tages- und Wochenlauf ist rhythmisch gegliedert und gibt den Kindern Halt und Orientierung, was besonders zu Beginn eines Kindergartenjahres, wenn alle wieder neu zusammen finden müssen, sehr wichtig ist. Sind die Kinder gut angekommen, können wir auch je nach Wetterlage oder Vorhaben davon abweichen.
Ein Tag in der Wald- und Wiesengruppe
07:30 Uhr – 08:30 Uhr
Bringzeit
In dieser Zeit wird das Frühstück vorbereitet, es gibt Brot mit Obst oder Gemüse, in der kalten Jahreszeit (Herbst bis etwa Pfingsten) bieten wir zum Brot warme Gemüsesuppe, Haferbrei und statt frischem Obst Trockenobst und Nüsse an.
08:45 Uhr bis etwa 09:15 Uhr
Morgenkreis und Reigen
Wir begrüßen die Kinder, schauen wer fehlt, singen Lieder, machen Fingerspiele und zum Abschluss einen Reigen zur Jahres- oder Festzeit.
09:15 Uhr
Gang zur Toilette im Schulgebäude und Händewaschen
Die Nutzung einer Kompost-Toilette auf dem Wiesengelände ist jederzeit möglich, an einem Wasserkanister mit Waschschüssel können die Hände gewaschen werden.
09:30 Uhr
gemeinsames Frühstück unter dem Vordach
oder Aufbruch zur Wanderung, dann frühstücken wir am Ziel
10:00 Uhr
Freispiel der Kinder
Die Erwachsenen gehen einer sinnhaften Tätigkeit auf der Wiese oder im Gelände nach
11:45 Uhr
aufräumen oder Rückkehr zur Wiese
12:15 Uhr
Wir treffen uns zum Abschlusskreis unter dem Vordach, es wird ein Märchen erzählt oder ein Puppenspiel gezeigt und wir verabschieden uns voneinander mit unserem Abschlussspruch.
12:30 Uhr
Mittagessen im Bauwagen
Nach einem Toilettengang gibt es ein vegetarisches Mittagessen, das wir aus der Schulküche zu uns in den Bauwagen holen und dort einnehmen.
13:15 Uhr
Mittagsruhe
Alle Kinder, die noch nicht abgeholt wurden, legen sich auf einem weichen Teppich, es wird eine Geschichte oder ein Bilderbuch vorgelesen, die Kinder ruhen sich aus. Danach dürfen die Kinder bis zum Abholen malen oder noch einmal spielen.
Bis 14:00 Uhr werden alle Kinder abgeholt
Im großen Bogen durch das Jahr
In den ersten drei Jahren unserer Arbeit hat sich ein Wochenrhythmus ergeben, der drei Tage auf der Wiese und zwei Tage im umliegenden Gelände vorsieht.
Einmal in der Woche, am Mittwoch, kommen die Kinder (ab 4 Jahren) gruppenübergreifend zur Eurythmie zusammen. Sehr aufmerksam und konzentriert erleben wir da die Kinder, nachahmend bis in die Zehenspitzen hinein gestalten sie Bewegungen und Raumformen zu Sprüchen oder zur Musik, die besonders im Winter, bedingt durch die eher unförmige Kleidung und klobigen Stiefel im Kontrast zur Bewegung im Gelände stehen.
Es gibt wenige Arbeiten in unserem Alltag, die den Vorschulkindern vorbehalten sind, Schnitzarbeiten sind beispielsweise Tätigkeiten, die wir nur den Vorschulkindern anbieten. Bei allen weiteren künstlerischen und handwerklichen Tätigkeiten dürfen alle Kinder nachahmend und schöpferisch ihrem Tatendrang folgen.
Bei diesen Arbeiten lassen wir uns vom langen Atem leiten, den wir im Jahreskreislauf und den darin eingebetteten christlichen Festen erleben, beginnend mit dem Erntefest Ende September bis zum sommerlichen Jahresausklang zu Johanni. Das erlebte Naturgeschehen zu den Jahresfesten bildet die Grundlage für unsere Vorbereitung und Tätigkeit, die sich von Jahr zu Jahr unterscheiden darf, je nach Witterung oder Idee und vor allem je nach Gruppenkonstellation mit der Frage: „und was brauchen diese Kinder in diesem Jahr zu diesem Fest?“
Wir leben auf die Feste hin, bereiten sie mit den Kindern vor und feiern sie dann sehr gerne gemeinsam mit den Eltern, die auf diese Weise am Wiesengeschehen teilhaben können. Durch das regelmäßige Zusammenkommen bei den Jahresfesten entsteht eine tiefe Verbundenheit und ein Gemeinschaftsgefühl, das an der regen Beteiligung bei Gartenaktionen und Elternabenden erlebbar wird.
Durch die Betreuungsform ihrer Kinder in einer Draußen-Gruppe sind Eltern sehr gefordert. Sie müssen sich täglich in das Naturgeschehen einfühlen und die Kinder entsprechend kleiden.
Auch brauchen die Kinder nach einer Erkrankung eine längere Erholungszeit, weil sie sich nur ganz gesund und kräftig über längere Zeit Draußen wohl fühlen.
Immer mehr Eltern wünschen sich Naturerlebnisse für ihre Kinder. Sie erinnern sich an die eigene Kindheit, in der ein „ich geh‘ raus spielen“ noch selbstverständlich war und suchen nach geschützten Entwicklungsräumen in denen sich die Kinder im Kontakt mit der Natur entfalten können.
In Städten gibt es Naturräume und sie werden täglich von vielen Menschen dankbar aufgesucht. Für Kinder müssen mehr natürliche Freiräume geschaffen werden und es liegt an den Erwachsenen, diese zu erschließen, denn die Kinder wissen, wieviel Pracht sich in den kleinsten Dingen offenbart.
Mirjam Andreotti
Waldorferzieherin