Derzeit scheint es mir manchmal, als wäre Anthroposophie das Sahnehäubchen auf dem Nachtisch. Und jetzt, in einer Krise, können wir uns nun mal kein Sahnehäubchen oder keinen Nachtisch mehr leisten. Wie ginge es uns, wenn anthroposophisches Arbeiten das Grundnahrungsmittel wäre? Wenn Schulungs- und Lebensweg eines wären? Es geht um die Einstellung, nicht um Zeiteinteilung oder Prioritäten.
Wie kann es sein, dass ganze Kollegien, Vorstände und andere selbstverwaltete Arbeitsgremien handlungsunfähig werden – aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen der derzeitigen Situation? Das Verbindende ist doch die gemeinsame Aufgabe, nicht die persönliche oder politische Ansicht.
Fallen wir, im Selbst erschüttert, vielleicht zurück, oder zeigt sich jetzt, dass wir unser hohes Gut – Selbsterziehung, Selbstverwaltung, Klassenstunden, Menschenweihehandlung oder Opferfeier – nur genießen, aber nicht verdauen, sprich bearbeiten, verinnerlichen und umwandeln in Fähigkeiten?
Ist „Das Leben in der Bewusstseinsseelenzeit“ eine Floskel oder Arbeitsgrundlage?
Empfindungsseele: „Der Doktor hat gesagt“ und „das haben wir schon immer so gemacht“ … Es fühlt sich also gewohnt und somit gut und richtig an. Es ist die persönliche Komfortzone, wir bleiben, im Bild gesprochen, in den eigenen vier Wänden.
Verstandesseele: „Der Doktor hat gesagt“, und ich sammle seit Jahren bestätigende Phänomene. Damit bestätige ich durch einen vorgegebenen Blickwinkel meinen Ausschnitt der Welt durch diese Brille. Letztlich ist dies jedoch lediglich assoziative Fleißarbeit. Im selben Bild bleibend, blicke ich immerhin aus dem Fenster oder den Fenstern des von mir bewohnten Turmes in die Welt, dabei bleibt unbeachtet, was in oder unmittelbar hinter mir ist.
Bewusstseinsseele: Die Aussagen von Rudolf Steiner sind zu prüfen. Diese sind im eigenen Herzen und Bewusstsein zu tragen. Die Phänomene sprechen sich aus. Mir obliegt es dabei, Denken, Fühlen und Wollen zu verbinden und meinen eigenen Entscheidungsprozess bewusst wahrzunehmen. Um im Bild zu bleiben, müsste ich mich auch fragen, was oder wen ich nicht sehe aus meinen Fenstern, weil es in oder unmittelbar hinter mir liegt. Da der Turm Teil der Welt ist, gilt es auch diesen einzuordnen in eine Landschaft und eine Zeit.
In jeder Begegnung, vor allem in der Begegnung mit anders Denkenden, liegt die Chance, wirklich Mitgefühl und Mitdenken zu entwickeln. Auf welchem Standpunkt steht mein Gegenüber, und in welche Richtung blickt es von diesem Standpunkt aus? Wäre ein Perspektivwechsel vom Standpunkt aller am Gespräch Teilnehmenden möglich? Dann wäre auch die Dualität „ich denke“ oder „ich fühle“ vielleicht zu überwinden. Meist reflektieren wir noch nicht einmal das gewohnte Denken oder Fühlen, sondern es ist eine unbewusste Bestandsschutzverteidigung dessen, was sich – wie auch immer, als gewohnt und somit heimelig, vertraut und Halt gebend erweist. Es ist nur allzu nachvollziehbar, dass wir uns dies, wenn die ganze Welt wackelt und sich alles polarisiert, in der Familie, im Freundeskreis, unter den zusammen Arbeitenden erhalten wollen.
Voraussetzung für diesen Weg ist ein eigener Standpunkt, auf welchem ich mich selbst aufgerichtet habe: die Fähigkeit zu stehen, die Schwerkraft zu überwinden, die Aufrichtung zu schaffen und sich so zu stabilisieren, dass die Knochen ihrer tragenden Aufgabe nachgehen können. Dann entwickeln wir die Fähigkeit zu gehen. So frei in der Beweglichkeit und im Gleichgewicht zu sein, dass ich mich von meinem Standpunkt aus in jede Richtung umsehen, diesen zudem verlassen und von anderen Perspektiven aus betrachten kann. Das wäre eine vorbereitende Übung, um mich in den Standpunkt eines anderen Menschen fragend einzufühlen und einzudenken. Man könnte das auch als Inter-esse im wahren Wortsinn bezeichnen. Ich bewege mich zwischen deinem und meinem Ausgangspunkt.
Vielleicht finden wir dann gemeinsam noch weitere Aspekte. Oft sind kleine biografische Episoden sehr hilfreich, um den Standpunkt anderer Mitmenschen als derzeitige Station auf dem Lebensweg annehmen zu können. Über das ehrliche Interesse am anderen Menschen erfordert es den Versuch, „in seinen Schuhen zu wandern“ oder seinen Lebensweg einfühlend nachzuvollziehen. Das hat rein gar nichts mit mir, meinen Erfahrungen, Vorlieben und Gewohnheiten zu tun. Wer stehen und gehen kann, muss seinen Standpunkt nicht vertreten oder sich auseinandersetzen. Wenn dieser lebendig verinnerlicht ist, steht er zur freien Verfügung, und wir können uns zusammensetzen und alle Perspektiven zusammentragen. Um zu dem obigen Bild zurück zu kehren, bleibe ich dann nicht im Turm sitzen, sondern gehe in die Welt und betrachte den Turm auch im Verhältnis zur ihn umgebenden Landschaft von außen.
„Ich schaue in die Welt“ und „Ich schaue in die Seele“, der Morgenspruch, ist die erste Möglichkeit, wahrnehmend zu werden dafür, woher meine Impulse kommen. Sich dann mit dieser Fähigkeit in andere zu versetzen wird in jeder Epoche, bei jedem Thema geübt, denn methodisch geht es um die Erwärmung für das jeweilige Thema, sich erwärmen, sich interessieren. In diesem Prozess macht man sich die Welt zu eigen. Wenn verschiedene Sichtweisen transparent sind, kann das Erkenntnislicht hindurchscheinen, es kann nach Konsens, nach Übereinstimmung gesucht werden. Das ist eine ganz andere Bewegung, als einen Kompromiss auszuhandeln.
Wir medizinisch-pädagogisch Tätigen sollten durch die Kinderkonferenzen oder Patient:innenbesprechungen die Geübtesten darin sein, uns in einem individuellen Entwicklungsweg den Bedürfnissen der individuellen Person aus unterschiedlichen Perspektiven mitfühlend zu nähern. Vielleicht könnten wir diese Fähigkeit auch im Miteinander unserer Arbeitszusammenhänge nutzen.
Birgit Krohmer
Vorwort aus der Medizinisch-Pädagogischen Konferenz #95